Warum macht mich Ungerechtigkeit so aggressiv? Warum fürchten sich so viele Menschen vor mir? Warum stoße ich so oft auf Unverständnis? Es gibt viele Fragen zu sich selbst, aber auch zu anderen Personen. Manche erscheinen einem sogar unverschämt oder gar dumm. Warum das so ist, erklärt das Enneagramm mit den neun Charaktertypen. Es ist eine Landkarte, um eine Idee zu bekommen, wie man selbst tickt und wie andere die Welt sehen.
Text: Martina Bauer
Sie empfinden Stress, wenn Sie sich eingeengt oder gefangen fühlen? Dann sind Sie vermutlich ein "Siebener". Dennoch kommen Sie beim Enneagramm in eine Schublade. In eine von neun. In der können Sie sich dann ansehen wie Sie ticken. Das muss nicht immer etwas mit Ihrer Selbstwahrnehmung zu tun haben. Die ist nämlich oft ganz anderes, als das tatsächliche Muster, nach dem man gestrickt ist und das einem ein Leben lang begleitet.
Herz, Kopf oder Bauch
Eine spannende Angelegenheit. Nicht nur, um mehr über sich selbst zu lernen, über Hindernisse, Talente und Potenziale, sondern auch um mehr über andere zu erfahren. Warum man mit dem Partner in dieser einen Sache auf keinen grünen Zweig kommt, oder wieso der spezielle Kollege "immer so blöd" ist. Ganz einfach: Er sieht die Welt nach seinem Muster. Sie sehen Sie nach dem Ihrem. Das Enneagramm gibt dazu Aufschlüsse und ist ein Tool für den besseren Umgang mit sich selbst, also zur Persönlichkeitsentwicklung, aber auch fürs Zusammenleben und für die Zusammenarbeit. In Hollywood werden danach Rollen besetzt, und große Konzerne setzen es auch bei der Mitarbeiterwahl ein.
Herz, Kopf und Bauch - Fühlen, Denken, Handeln - das ist die Grundstruktur des Enneagramms, die sich dann nochmal in je drei Kategorien unterteilt. Demzufolge gibt es neun Charaktertypen, in die sich alle Menschen einteilen lassen. "Und zwar in nur eine einzige dieser neun. Es gibt niemanden, der zwei Typen gleichzeitig sein kann", sagt Peter Maurer, Enneagramm-Trainer und Vorsitzender des Ökumenischen Arbeitskreis Enneagramm (ÖAE).
Harmonie, Regeln und Sex
Er umreißt für alles roger?, worum es bei den drei Grundtypen geht: "Herzmenschen geht es primär um Beziehungen, Harmonie, Gemeinsamkeiten, darum, dass sich alle gut verstehen und alles gut ist. Sie wollen sich geborgen fühlen. Kopfmenschen brauchen Sicherheit, Pünktlichkeit, Orientierung, und Regeln sind auch ganz wichtig. Bauchmenschen haben meist ein enorm gutes Gespür. Ihnen sind vitale Bedürfnisse wie Essen oder Sexualität wichtig. Intuition und Wut sind ebenfalls ihre Themen. Viele sind sehr präsent. Wenn sie erscheinen, füllen sie meist den ganzen Raum. Die übersieht man nicht. Darum fürchten sich viele andere Menschen vor ihnen. Ganz groß ist ihr Autonomiebedürfnis. Wer dem Bauchmenschen nicht auf Augenhöhe begegnet, hat schon verloren. All diese Muster laufen meist im Hintergrund und finden in der Selbstwahrnehmung oft gar nicht statt. Meist stolpert man über eines dieser Bedürfnisse, und das zieht sich dann wie ein roter Faden durchs Leben."
Was Maurer theoretisch erklärt, veranschaulicht er dann ganz gut mit folgendem Beispiel: In Psychosozialen Zentren arbeiten oft Herzmenschen. Nach einem Meeting freuen die sich einfach nur, dass sie gemütlich zusammengesessen sind und es fein hatten. Dann ist da ein Kopfmensch dabei, und der ist irrsinnig angefressen, weil keines der anstehenden Probleme besprochen wurde. Dem Bauchmenschen reicht es, dass ihm keiner in die Quere gekommen ist und er machen kann was er will. Der sagt sich, mir is? Wurscht, ich hab grad Gugelhupf gegessen. Fertig.
Die Wahrnehmung in neun Welten
Und ein anderes: Wenn man eine "Fünf" (Kopf) umarmen will, tut man sich schwer. Da fragt man sich, wie zum Beispiel ein Mann mit 120 Kilo dabei mit zwei cm2 Körperkontakt auskommen kann. Der mag das einfach nicht. Eine "Acht" (Bauch) hingegen mag intensiven Körperkontakt, den spürt man mehr als deutlich. Die Muster fühlen sich im Kontakt auch energetisch unterschiedlich an.
So unterschiedlich kann also Wahrnehmung in den neun verschiedenen Welten der Charaktertypen sein. Darum ist das Enneagramm eine gute Landkarte auf dem Weg zu sich selbst sowie zu anderen. Ganz unumstritten ist diese Methode aber nicht, weil man diesem Tool auch einen esoterischen Touch geben kann. "Man kann es ganz schräg bis hoch seriös im pädagogischen und therapeutischen Bereich anwenden", so Maurer, der es aber keinesfalls dafür verstanden haben möchte, dass man über den anderen etwas in Erfahrung bringt, womit man ihn dann über den Tisch ziehen kann. Dafür wurde es nicht erdacht.
Am besten ist es ohnehin, wenn man sich mal mit sich selbst beschäftigt. Wenn man sich nämlich ganz anders sieht, als das Muster zeigt, tut man sich in der Regel auch schwer mit Feedback umzugehen. Man versteht das dann als ungerechtfertigte Kritik oder gar Angriff. Auf die Frage, ob der Mensch überhaupt zu Veränderung fähig ist, sagt Maurer: "Wenn er sich sehr anstrengt, ja, aber grundsätzlich ist der Mensch eher auf Beharrung gepolt, außer, es geschieht was Einschneidendes. Dann muss Veränderung oft zwangsläufig passieren. Sich innerhalb des eigenen Musters zu entwickeln, das ist der Königsweg."
Das Muster und die Chance
Am Ende des Tages geht es darum, mehr bewusst zu sein und immer besser aus der Automatik auszusteigen. Das fällt naturgemäß leichter, wenn man gut drauf ist. Bei Stress fällt man leichter ins gewohnte Fahrwasser zurück und dann kann sich das Muster auch verstärken. Abwerfen kann man seinen Charakter nicht, aber verbessern. Nicht unbedingt die leichteste aller Übungen, aber eine Reise, die es allemal wert ist, sie anzutreten.
"Es geht ja nicht nur darum, einen Menschen zu kategorisieren. Die Typbestimmung ist nur ein Wegweiser für einen Prozess, bei dem sich jeder selbst entdecken darf. Ich setze auch niemandem etwas auf. Bei meiner Arbeit als Enneagramm-Trainer geht's darum, anderen zu helfen, rauszufinden wer sie sind. Es sind Fragen wie: Was ist ganz tief in mir drinnen? Was behindert mich am meisten? Wo habe ich das meiste Entwicklungspotenzial? Darauf kann man ganz leicht Antworten finden", so Maurer, der auch Pädagoge und Supervisor ist. All das und noch viel mehr ist mit dem Enneagramm möglich - wenn man es denn möchte. Nähere Informationen und eine App gibt's unter www.enneagramm.eu oder bei Peter Maurer [email protected]