Das Heroin der Zukunft

Foto: 123rf

Die neue Realität ist nicht real, sie ist virtuell. Und sie macht süchtig. In unwirklichen Wirklichkeiten kann man alles erleben, was man will. Jeder sein, der man möchte. Da kann die Realität nicht mithalten. Ein Selbstversuch. Text: Helmut Berger

Von links nähert sich etwas Großes. Etwas Gigantisches. Und im ersten Moment weiß ich nicht, ob ich fliehen oder mich einfach ruhig verhalten soll. Ich muss mich daran erinnern, dass mir der Blauwal, der mittlerweile nur noch zwei Meter entfernt ist, nichts tun kann, und gehe ein paar Schritte nach vorne. Zur Reling des versunkenen Schiffs. Und strecke die Hand aus. Da macht der Ozeanriese eine ruckartige Bewegung mit der Schwanzflosse. Und weg ist er. Mir wird schwarz vor Augen. Das Programm lädt eine neue Realität.

Hoch hinaus

Aus den Tiefen des Ozeans geht’s ins Weltall. In eine futuristische Wirklichkeit. Ich schau mich um. Sterne. Raumschiffe. Und zwei Waffen in meinen Händen, in denen ich eigentlich Controller halte. Ich erschrecke, als mir jemand auf die Schulter tippt, mir die Kopfhörer von den Ohren zieht und erklärt: „Da tauchen jetzt gleich Drohnen auf, die musst du abschießen” „Okay, und wie?“ „Einfach zielen und vorne abdrücken, du kannst dir auch die Munition aussuchen. Und wenn du einen Schild brauchst, musst du nur so tun, als würdest du einen Pfeil aus einem Köcher auf deinem Rücken ziehen, probier das einmal.“ Gut, ich greife nach hinten, bewege den Arm vors Gesicht. Es funktioniert, ich halte einen orangen, durchsichtigen und scheinbar von Elektrizität durchströmten Schild in der linken Hand. Er setzt die Kopfhörer wieder auf meine Ohren. Und schon taucht die erste Drohne auf. Kein Problem, ich schieß sie ab, bevor sie mich trifft. Level zwei. Jetzt sind es schon einige Drohnen. Level drei. Es werden immer mehr. Und sie kommen aus allen Richtungen. Level vier. Ich verstecke mich hinter dem Schild, schieße zurück, gehe in Deckung, weiche nach links und rechts aus. Level fünf. Erwischt. Game over.

Unwirkliche Wirklichkeit

Ich nehme die Virtual-Reality-Brille ab und reiße die Augen weit auf. Da bin ich wieder. Zurück aus dem Ozean. Zurück von meinem ganz persönlichen Krieg der Sterne. Zurück aus der Zukunft, aus der Matrix. Zurück im vrei, der Virtual Reality Lounge im siebten Wiener Gemeindebezirk. Wo man zum Beispiel in die virtuellen Realitäten von HTC Vive eintauchen kann. Gratis. In der gemütlichen Atmosphäre einer Bar. Und eintauchen wollen viele. Der Andrang ist selbst an diesem sonnigen Sonntagnachmittag groß. Zwei junge und sichtlich aufgeregte Nerds sind pünktlich um 15 Uhr da, als Timon Liebau, einer der Gründer von vrei, das Lokal gerade aufsperrt. Er fährt die Computer hoch, schon kommen die nächsten Tester durch die Tür. Timon bittet mich in einen mit rotem Band abgesperrten Bereich und setzt mir die Brille und Kopfhörer auf. Nach einer kurzen Einführung streichle ich auch schon virtuelle Fische mit den Handcontrollern. Die Realität ist animiert. Ihr Schöpfer, ihr Gott, wenn man so will, irgendein Programmierer. Und obwohl man kein Wasser auf der Haut spürt, obwohl man die Luft nicht anhalten muss, und obwohl man weiß, dass es Raumschiffe, Laserkanonen und Killer-Drohnen nur in Science-Fiction-Filmen gibt, wirkt sie so echt, diese Realität. So echt, dass man das Gefühl hat, alles wirklich zu erleben. Es ist ein Phänomen. So faszinierend wie problematisch.

Gigantisches Suchtpotenzial

Virtual Reality ist also am Massenmarkt angekommen. Ob HTC Vive oder Oculus Rift, die Headsets sind sehr begehrt. „Virtual Reality gibt uns die Möglichkeit, den sozialen Kosmos, in dem wir in Beziehungen leben, völlig aufzureißen. Das tun allerdings auch Religionen und Drogen“, sagt der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx in einem Interview und warnt: „Der VR-Nutzer ist gewissermaßen der zölibatäre Priester, der nichts mehr aus seiner sozialen Umwelt braucht. Das macht natürlich auch das Geile, das Gefährliche, das Faszinierende an der Technik aus. Sie ist eine Hybris in sich, eine Flucht- und Kontrollversion: die Illusion, die Realität ‚ersetzen‘ zu können. Schon deshalb wird sie ein Erfolg werden. So wie Heroin oder Crystal Meth.“

Das Suchtpotenzial schätzt der Experte als gigantisch ein: „Für eine bestimmte Gruppe von Nerds ist das die endgültige Dröhnung. Wir werden in wenigen Jahren Cyberleichen entdecken, die unter ihren Oculus-Brillen verhungert oder verdurstet sind.“ Hat man Virtual Reality einmal ausprobiert, kann man die Sorgen verstehen. Schließlich sind viele Menschen in der Realität nicht wirklich glücklich. Am liebsten wären sie woanders. Und jemand anders. Erfolgreicher, attraktiver, zufriedener. In virtuellen Welten kann jeder alles sein. Vom Bösewicht bis zum Superhelden. Warum also noch in der Wirklichkeit leben?

„Das, was wir mit großen, epochalen Computerspielen wie World of Warcraft erlebt haben, diese ‚Immersionsgefahr‘, das Nicht-mehr-Zurückkommen, wird sich in ganz andere Dimensionen steigern. Mittel- und langfristig sehe ich Cyber-Vergnügungsparks, wie sie im Endteil von Stephen Spielbergs ‚AI‘ gezeigt werden. Wo man Drogen und VR zum echten Wegblasen kombiniert. Unvorstellbare Orgien, unvorstellbare Welten“, sagt Horx. Werden alle bald nur noch mit Brillen am Kopf zu Hause sitzen, sämtliche sozialen Kontakte abbrechen, sich in virtuellen Welten verlieren und einsam sterben? Der Wiener Psychologe Oswald David Kothgassner sieht die Zukunft der Menschheit nicht ganz so finster.

Große Chancen

„Virtual Reality, denke ich, birgt an sich keine nennenswerten Gefahren. Wir müssen uns nur überlegen, was wir damit machen werden“, meint Kothgassner. Möglichkeiten gibt es jedenfalls viele. Alle nur denkbaren Situationen lassen sich mit den Headsets erleben. Und zwar so realitätsnah, dass sie tiefe Eindrücke hinterlassen. So kann man seinen Erfahrungsschatz ständig erweitern. Auch um schlechte Erfahrungen. Zum Beispiel um einen 360-Grad-Einblick in einen Schlachthof. Oder um eine Bombenexplosion in einer simulierten Version der Stadt Aleppo (Project Syria). Oder man schlüpft in die Rolle einer Frau, die eine Abtreibung vornehmen lassen möchte (Across The Line). Animierte Proteste auf dem Weg zur Klinik mit Original-Audioaufnahmen inklusive. Oder man verbringt ein bisschen Zeit in Einzelhaft (6x9). Solche Projekte können einerseits natürlich verstörend sein, andererseits auch dafür sorgen, dass Menschen mehr Verständnis füreinander aufbringen. Ganz nach dem Motto: Wenn du wüsstest, wie sich das anfühlt, würdest du anders denken. Natürlich kann man auch schöne Erfahrungen machen. Und die Welt sehen, selbst wenn man zum Beispiel aus gesundheitlichen Gründen dazu nicht in der Lage ist. Es gibt auch schräge Ansätze. So hat der japanische Sexspielzeug-Hersteller Tenga mit Illusion VR einen Ganzkörperanzug entwickelt, mit dem man virtuellen Sex hautnah erleben kann. Pornos sind natürlich ein großes Thema in unwirklichen Realitäten. Aber auch für die Wissenschaft ergeben sich spannende Möglichkeiten.

„Virtual Reality ist gerade dabei, eine kleine Revolution zu starten. Zum einen im Spielesektor und in den sozialen Medien. Zum anderen aber auch in der psychologischen und medizinischen Behandlung“, sagt Oswald David Kothgassner. Denn die Erlebnisse in der virtuellen Wirklichkeit wirken sich auf die Realität aus. „Wenn ein Kind über das Internet in irgendeiner Form gemobbt wird oder eine andere Form der Zurückweisung erfährt, dann wird es dieselben Konsequenzen spüren wie ein Kind, das in der Schulklasse ähnliches erfährt“, erklärt der Psychologe. Außerdem kann „soziale Unterstützung durch eine computergenerierte Figur – einen Avatar – ähnlich beruhigend“ wirken wie ein echter Mensch. Das heißt: Was man in der virtuellen Realität erlebt, hat Auswirkungen auf die Wirklichkeit. Und das kann man sich zunutze machen. Kothgassner beschäftigt sich mit der sogenannten Virtual Reality Exposure Therapy. Das ist eine Konfrontationstherapie. Das bedeutet: Hat man zum Beispiel Flugangst, wird man in einer virtuellen Realität mit dieser Angst konfrontiert und kann so die eigenen Erfahrungen verarbeiten. Ohne die Situation real erleben zu müssen. Eine sehr effektive Methode.

Eigene Verantwortung

Die virtuellen Realitäten eröffnen Chancen und Möglichkeiten, bergen aber auch Gefahren und Risiken. Selbst Kothgassner warnt: „Im schlimmsten Fall gibt es Menschen, die in der physischen Realität nicht mehr existieren können. Sie fliehen in den Cyberspace und verbergen eventuell auch eine Psychopathologie, etwa eine soziale Phobie.“ Für solche Leute müsse man sich schon jetzt Konzepte überlegen. Trotzdem: Es gab einmal eine Zeit, in der man vor Büchern gewarnt hat. Rock ’n’ Roll, Filme, Fernsehen, Comics, Computerspiele, Smartphones. Alles, was neu ist, ist potenziell gefährlich. So tickt der Mensch. Gegen diesen uralten Instinkt kann er nichts machen. Außer eine Brille aufsetzen und in die Zukunft schauen. On.

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