Wenn sich zwei Eltern streiten, freut sich niemand. Am wenigsten das Kind. Ein smartes Modell schafft nach Scheidungen Fairness für alle Beteiligten und gibt dem Kind Mama und Papa zurück. Es heißt Doppelresidenz. alles roger? fragte nach, ob es funktioniert.
Text: Martina Bauer und Martin Morauf
Draußen ist es noch dunkel. Stefan S. ist schon lange auf den Beinen. Er hat vorgekocht – Mittagessen, Abendessen – und ist auf dem Weg ins Büro. Zu Mittag wird er Schluss machen und seine beiden Söhne von der Schule abholen. Der Nachmittag gehört ihnen. Aufgabe machen, spielen. Der Ältere will mit seiner neuen Kamera ein Video drehen – sein aktuelles Hobby. Abends bringt er beide Kinder ins Bett, liest dem Jüngeren eine Gute-Nacht-Geschichte vor, und morgen früh wird er sie wieder in die Schule bringen. Stefan ist Doppelresidenzpapa.
Seit der Trennung von seiner Exfrau betreut er seine Söhne nahezu die Hälfte der Zeit. Einer exakten 50/50-Lösung, sagt Stefan, wollte seine Ex nicht zustimmen, weil sie dann keinen Unterhalt bekommen hätte. Mit Unterstützung des Pflegschaftsgerichtes stellte sie ihn vor die Wahl: Entweder 1.500 Euro pro Monat und er darf die Kinder nur jedes zweite Wochenende sehen oder eine 60/40-Regelung plus 920 Euro Unterhalt. Stefan entschied sich für Zweiteres. Finanziell ist es ein Wahnsinn, sagt er. Aber ein Leben ohne seine beiden Söhne kam für ihn nicht infrage. Sein Arbeitgeber spielte mit, und so arbeitet er nun eine Woche 30 und eine Woche 60 Stunden. Das Leben hat er ganz auf seine Kinder ausgerichtet.
Stefan ist die große Ausnahme. Mehr als 90 Prozent aller Trennungskinder in Österreich leben ausschließlich bei ihrer Mutter. Die meisten dürfen ihre Väter nur noch als Wochenendbespaßer erleben, und viele verlieren innerhalb weniger Jahre überhaupt jeden Kontakt.
Schuld daran ist das österreichische Familienrecht. Geht es nach dem Wunsch des Gesetzgebers, sollen Kinder bei den Müttern bleiben und Väter sich auf das Zahlen von Unterhalt beschränken. Das ist zwar praktisch, weil es leicht zu exe-kutieren ist, geht aber an den Bedürfnissen der Kinder und an der Lebensrealität der heutigen Gesellschaft vorbei.
Im Oktober vorigen Jahres verabschiedete der Europäische Rat einstimmig die Resolution 2079, die alle Mitgliedsländer dazu auffordert, gleichberechtigte Elternschaft gesetzlich zu verankern und die gleichteilige Betreuung der gemeinsamen Kinder auch nach einer Trennung zu forcieren. In Österreich will man davon nichts wissen. Laut einer Studie des ICRN (International Children Rights Network) liegt Österreich auf Platz 71, wenn es um die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention und den Schutz von Kinderrechten geht – hinter Ländern wie Bangladesch oder Uganda.
Kinder brauchen auch ihren Vater, um sich gesund und ausgeglichen zu entwickeln. Das weiß auch Gerda E., Volksschullehrerin aus Niederösterreich. Seit ihrer Trennung teilt sie sich die Betreuung ihres Sohnes gleichberechtigt mit ihrem Exmann. Sie hat sich eine Wohnung in unmittelbarer Nähe gesucht, damit ihr Kind jederzeit zwischen seinen beiden Wohnsitzen pendeln kann. Gerda erzählt, dass es natürlich nicht immer einfach war, sich mit ihrem Ex zu koordinieren. Die Paarebene zu überwinden und als Eltern Verantwortung zu übernehmen, erfordert Disziplin und manchmal auch Zurückhaltung. „Aber“, sagt die ausgebildete Pädagogin, „wenn ich sehe, wie glücklich unser Kind mit der Situation ist, ist es das allemal wert.“ Sie könnte es sich nicht vorstellen, ihrem Sohn den Vater vorzuenthalten. „Natürlich“, meint sie, „gibt es Augenblicke, in denen ich unser Kind gerne öfter bei mir hätte. Und ich weiß auch, dass ich gute Chancen hätte, das gerichtlich gegen den Willen meines Exmannes zu erzwingen. Aber nicht wir Erwachsene haben ein Recht auf unsere Kinder, sondern Kinder haben ein Recht auf beide Eltern“.
Ganz in diesem Sinne ist auch die Doppelresidenz zu verstehen. Es geht nicht darum – wie oft fälschlicherweise behauptet wird –, dass alle Eltern gezwungen werden sollen, ihre Kinder ab nun Hälfte/Hälfte zu betreuen. Die Idee ist, dass sich beide Eltern als gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe ein Betreuungsmodell überlegen, das für das Kind und auch für beide Eltern am ehesten lebbar ist. Das kann 50/50, 30/70 oder sogar ein herkömmliches Residenzmodell sein, wenn es für alle Beteiligten die beste Lösung ist. Unterhalt soll primär nur noch dazu dienen, große Einkommensunterschiede zwischen den Eltern auszugleichen, um den Kindern in beiden Haushalten annähernd gleiche Lebensbedingungen zu ermöglichen.
Der wesentliche Punkt ist, dass es nicht mehr möglich sein darf, dass ein Elternteil den anderen gegen dessen Willen von der Betreuung der gemeinsamen Kinder ausschließt.
In allen Ländern, wo das heute bereits praktiziert wird, gehen übrigens die Zahlen der gerichtsanhängigen Obsorge- und Unterhaltsstreitigkeiten stark zurück. Klar – wenn der Gesetzgeber deutlich macht, dass ein Streit ums Kind nicht gewonnen werden kann, dann wird auch niemand mehr streiten wollen.
In dasselbe Horn stößt auch Psychotherapeutin und Buchautorin Prof. Dr. Martina Leibovici-Mühlberger, wenn sie schreibt, dass kein Kind davor verschont wird, was sich da als Verrat am Staatsbürger am Tatort Gericht tagtäglich zuträgt. Exemplarisch für unzählige Schicksale aus ihrer Praxis berichtet sie vom zwölfjährigen Max, der nicht versteht, „dass ich meinen Papa und meine Mama gleich lieb habe und beide gleich viel sehen will. Ich habe ja kein Problem mit meinen Eltern!“
Das ist, so Leibovici-Mühlberger, sonnenklar und einfach zu verstehen. „Lügt mich nicht an“ lautet Max’ Appell. „Schreibt Kinderrechte nicht auf ein Papier, sondern lebt sie. Setzt es im Fall der Trennung meiner Eltern doch so auf, dass ich ungehinderten und gleichwertigen Zugang zu Papa und Mama habe. Und zur Not diszipliniert meine Eltern, nicht mich!“
In Bezug auf die Doppelresidenz fragte alles roger? beim Familienministerium nach. Das sich erstaunlicher Weise so gar nicht zuständig fühlt. Laut Pressesprecher Sven Pöllauer sei das eine ressortfremde Angelegenheit, zu der man keine Meinung hat. Das sei Sache des Justizministeriums. Die Sprachlosigkeit blieb auch nach dem Einwurf aufrecht, dass sich das Familienministerium doch für die Familien einsetzen sollte. Fehlanzeige. Im Justizministerium hatte man zwar etwas mehr Gesprächslaune, aber auch nicht weniger Ignoranz. Zusammengefasst sagte Pressereferentin Martina Berger: „Man sieht derzeit keine Notwendigkeit für das Recht des Kindes auf beide Elternteile“. Allerdings verwies sie darauf, dass das Kindschaftsrecht bis Ende 2016 evaluiert wird und man sich das danach noch einmal ansehen wird. Kinder, denen der Vater vorenthalten wird und umgekehrt, dürfen zumindest hoffen.